Ein Weihnachtsmärchen

 

 

 

Einmal das Christkind sehen. Das war Paulines größter Wunsch. Ständig sprachen die Erwachsenen vom Christkind, das am Heiligen Abend kam, um die Kinder mit Geschenken zu bedenken. Selbst die es faustdick hinter den Ohren hatten, wurden beschenkt. Sonst würde ja ihr Bruder, der Ralf, immer leer ausgehen.

 

Das Christkind musste also ein sehr gütiges Wesen sein, und es war doch schade, dass es nie jemanden antraf, mit dem es reden konnte und von dem es den Dank aus erster Hand hörte.

 

Sie war wild entschlossen, das zu ändern. Das ganze Jahr über hatte sie sehr genau geplant, wann und wo sie es treffen wollte. Es gab viele gute Stellen in der Nähe ihres Elternhauses, das am Rande eines kleinen Dorfes in den Bergen lag. Eine stach dabei heraus- sie war am besten von allen geeignet, dem netten Christkind von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten.

 

Ein Stück weiter oben, dort, wo die ersten Häuserreihen des Dorfes, wenn man zurück blickte gerade noch aus den Nadelbäumen hervor lugten, bog ein schmaler Weg scharf nach rechts ab und führte über eine Brücke, die einen recht schmalen Bach überspannte.

 

Dort würde sie es treffen, ihm heißen Tee und selbstgebackene Plätzchen reichen und wirklich nur kurz mit ihm plaudern, weil sie genau wusste, wie viel es in der Heiligen Nacht zu tun hatte.

 

Wie sie es bewerkstelligen wollte, dass ihre Eltern sie alleine in den Wald gehen ließen? Auch das hatte die kleine Paulina bestens durchdacht. Sie würde sich während des Gottesdienstes aus der Kirche schleichen, was kein schwieriges Unterfangen bedeutete, weil es für die Kinder einen extra Raum gab, der vom eigentlichen Kirchenschiff etwas abgetrennt war. Während des Krippenspiels lag alles verdunkelt- das war die ideale Zeit, um ins Freie zu gehen, denn jeder wusste ja, dass das Christkind während des Gottesdienstes kam.

 

Ihre einzige Sorge war, dass sie zu spät dran sein könnte. Sie würde sich also sputen müssen.

 

Und genau das tat sie dann in der Heiligen Nacht, während die ersten Zeilen des Krippenspiels gesprochen wurden. Wie ein Schatten huschte sie nach draußen, die Türe blieb nur für Sekunden offen, so dass keiner misstrauisch wurde und alle schön dem Krippenspiel zuschauten.

 

Es war kalt in der Nacht, zu ihrer immensen Freude rieselte Schnee vom Himmel, was er, seit sie denken konnte am Heiligen Abend nie getan hatte. „Da wird sich das Christkind aber ganz besonders freuen“, sagte sie laut und lief in schnellen Trippelschritten zu ihrem Platz hin.

 

Den Hang kam sie nur schleichend nach oben, die dünne Schneedecke machte den Grund rutschig, so dass sie am Ende schwitzend und keuchend an der Kurve bei der Brücke stand, die Ohren aufgestellt, damit sie das Schellen der feinen Glöckchen am Christkindschlitten nicht überhörte.

 

Ein Wind wehte, anfangs nur sachte, aber an Stärke zulegend. Der Schnee fiel in dickeren Flocken und das zeichnete ein sehr schönes, idyllisches Winterbild gegen das Licht, das vom Dorf nach oben drang. Paulina jauchzte vor Glück, die Wangen nun nicht mehr nur von der Anstrengung rot, sondern auch von der Vorfreude, die durch sie strömte.

 

Schnee, der auf ihre Wangen kam, schmolz langsam vor sich hin, während die anderen Flocken ihre Mütze bedeckten, genauso wie sie es mit der Brücke und allem taten. Paulina sang verschiedene Weihnachtslieder, allesamt sehr leise vorgetragen, denn sie wollte wirklich nichts verpassen.

 

Doch der Wind legte an Stärke zu und bald heulte er richtiggehend und trieb die Schneeflocken vor sich her, so dass sie nicht mehr friedlich fielen, sondern mehr wie kleine Geschosse ankamen und im Gesicht stachen. Das trieb ihr die Tränen in die Augen und die Furcht in das Herz, dass sie das Christkind doch würde verpassen.

 

Wütend rieb sie den Schnee von der Haut und neigte bald den Kopf aus dem Wind, weil der fallende Schnee in der rasenden Form unaushaltbar war.

 

„Hör´ bitte auf, bitte, bitte! Das darfst du dem Christkind nicht antun!“, rief sie, so laut es ihre Stimme erlaubte. Aber der Dickkopf von Wind hörte nicht auf sie. Er verstärkte sich sogar noch, dass sich die Bäume bogen, als wollten sie sich gleich ausreißen. 

 

„O, du böser Wind, warum lässt du deine Wüterei nicht endlich sein!“ In Pauline wuchs die Angst um das liebe Christkind, das womöglich mit seinem Schlitten stecken blieb. Es war doch immer nur durch magische Art über die grünen Wiesen und braunen Wege mit seinem Schlittenfuhrwerk gekommen, jetzt schmiss der Wind unglaubliche Mengen Schnee überall hin. Wenn es nun stecken blieb? Wer half ihm denn, wenn seine lieben Zugtiere vor Erschöpfung nicht mehr weiter konnten? Vielleicht hatte es ja Engel bei sich, doch ob die stark genug waren, einen Schlitten aus Schneewehen herauszuziehen, war für Pauline nicht ausgemacht. Sie sah in Gedanken die vielen Bilder aus ihren Büchern, auf denen die Himmelsboten höchstens so groß wie sie selbst waren.

 

Pauline rang mit sich. Was, wenn sie sich auf den Weg machte, um das Christkind zu suchen, es aber bereits an ihr vorbei gezogen war, weil es doch nicht stecken geblieben war, oder weit entfernt fest saß, viel zu weit für ihre kleinen Beine?

 

Frage purzelte über Frage, und das lähmte Pauline, die absolut nicht wusste, was das Beste wäre. Dazu noch der garstige Wind und der viele Schnee, über den sie sich im Moment überhaupt nicht freuen konnte.

 

Pauline fühlte sich so verzweifelt, wie noch nie in ihrem Leben, am liebsten wäre sie zu ihren Eltern gegangen, damit die ihr sagten, was das Richtige sei, aber das fiel natürlich aus, weil die sie niemals im Leben wieder in den Wald zurücklassen würden. Deshalb wandte sie sich dem Himmel zu und betete darum, dass das Christkind nicht feststeckte und es auch noch nicht an ihr vorbei gezogen war, und dass sie bald erkennen möge, was für sie das Richtige wäre.

 

Keine Minute später hörte sie ein Bimmeln, so deutlich und so klar, als herrschte eine Stille um sie und kein tosender Wind. Sie traute ihren Ohren nicht gleich, aber just da ebbte der Wind etwas ab und da kam der Klang viel deutlicher zu ihr. Dabei blieb es nicht. Eine Stimme sprach zu ihr, nicht unbedingt in der freundlichen Art, wie sie es sich vorgestellt hatte, aber immer noch angenehm genug.

 

„Komm´, kleines Mädchen- komm´, ich warte auf dich. Folge nur immer dem Klang meines Glöckchens.“

 

Paulina zögerte. In all´ ihren Planungen hatte sie nicht miteinberechnet, dass sie von ihrem auserwählten Platz weggerufen werden könnte. Auch wenn der Wind nachgelassen hatte und der Schnee schön sacht in dicken Flocken fiel, änderte das nichts daran, dass sie kaum etwas sah. Die Stimme kam nicht von dem Weg jenseits der Brücke her, sondern von einem winzigen Fußpfad, der selbst im hellen Sonnenschein kaum auszumachen war.

 

Dass das Christkind den mit dem Schlitten benutzen konnte, war schon sehr außergewöhnlich, fand sie. Aber dann, es war ja ein sehr wundersames Wesen und kein gewöhnlicher Mensch.

 

„Ich komme, ich komme ja!“, rief Paulina und machte sich an den Aufstieg. Das war ein schwieriges Unterfangen, weil sie kaum richtig gehen konnte, der Pfad war dazu zu glitschig. Dazu fiel ihr ständig Schnee, der sich auf den Ästen der Bäume gesammelt hatte, die hier sehr dicht beieinander standen, in den Kragen. Das war am Anfang nur sehr lästig, dann aber bald äußerst unangenehm.

 

Aber weil das Christkind unaufhörlich nach ihr rief, kämpfte sie sich voran, mit aller Kraft und aller Zuversicht. Es wollte bestimmt von dem warmen Tee trinken und die leckeren Plätzchen essen. Das konnte es sich doch nicht entgehen lassen.

 

Bald war sie so tief im Wald, dass sie nichts mehr vom Dorf sah, und es ihr doch langsam unheimlich wurde. „Halte doch mal an!“, rief sie, erhielt aber nur zur Antwort: „Noch nicht, Kind, noch nicht. Bald sind wir da. Nur noch ein kleines Stück.“

 

Also ging sie weiter, trotz des Gefühls, dass etwas nicht ganz stimmig wäre. Sie sah ja nichts, aber sie kannte sich etwas aus und wusste daher, dass es einige Gefahrenstellen gab, die sie besser mied. Bei dem Gedanken kam ihr in den Sinn, dass sich das Christkind vielleicht nicht auskannte. „Wir müssen aufpassen, hier gibt es viele gefährliche Stellen!“, rief Paulina.

 

„Ich weiß, ich weiß, ich passe schon gut auf“, kam zurück, „hab´ nur keine Angst!“

 

Also vertraute sie weiter und schritt voran, denn das Christkind wollte alle beschützen und nicht in Gefahr bringen, das wusste wirklich jedes Kind. Im Hinterkopf tickte jedoch die Uhr und Paulina wusste unbesehen, dass der Gottesdienst seinem Ende zu ging. Bald würden alle aus der Kirche kommen und wenn sie dann nicht da war, würden sich ihre Eltern vor Sorge die Haare raufen.

 

„Ich muss bald umkehren, sonst machen sich meine Eltern Sorgen. Willst du nicht einfach stehen bleiben? Ich habe Tee und Gebäck für dich, da kannst du dich stärken, für deine weitere Reise. Du musst doch hungrig sein.“

 

Obwohl Paulina nichts sah, hatte sie den Eindruck, dass das Christkind stehen geblieben war. Nach einer längeren Pause antwortete es endlich. „So, du hast also Tee und Gebäck?

 

„Aber ja, das wollte ich dir schon die ganze Zeit geben. Du hast nach deinem langen Dienst doch sicherlich Durst, und Hunger hast du ganz bestimmt auch.“

 

„Tee und Kekse. Na, da kann ja keiner nein sagen“, kam die Stimme. Paulina hörte knirschen, das anzeigte, dass der Sprecher auf sie zu kam. Endlich, denn wenn sie ehrlich war, verlor sie langsam die Lust an dem ausgedehnten Spaziergang. So hatte sie das nicht geplant, es hätte eine ganz tolle Begegnung sein sollen, von der sie bis an ihr Lebensende hatte träumen wollen. Jetzt war davon im Moment kaum noch etwas vorhanden, müde und erschöpft, wie sie war, und das im Begleitung von der Kälte, die langsam durch alle Kleiderschichten drang.

 

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, fand Paulina, bis es endlich aus dem Dickicht der Bäume hervor kam. Doch selbst dann sah sie es nicht richtig, denn es gab kein Licht, das das Christkind beleuchtete, und das machte sie stutzig. Sollte das Christkind denn keine Laterne bei sich haben, oder von selbst leuchten, so als himmlisches Wesen?

 

Ehe sie sich stoppen konnte, stellte sie die Frage, die sie so sehr beschäftigte: „Wer bist du?“

 

Daraufhin fing ihr Gegenüber zu kichern an. „Wer bist du? Wer ich bin? Wer bist du? Du stellst vielleicht Fragen! Na, wer werde ich wohl sein? Ich bin natürlich das Christkind, das hast du doch sehen wollen, und kuck mal an, hier bin ich.“

 

„Du bist nicht das Christkind, nein, das bist du nicht!“ Diese Worte behielt sie für sich, weil sie ihn nicht beleidigen wollte, doch andererseits, was wollte der andere verlangen, wo er sich doch überhaupt nicht aufführte wie das Christkind? Paulina wich, ohne darüber nachgedacht zu haben, einen Schritt zurück, dann einen zweiten, danach noch einen dritten.

 

„Na, na, wo willst du denn hin? Nicht, dass du noch einen Abhang hinab purzelst. Das wäre doch nicht besonders schön am Heiligen Abend.“ Er kam näher, ein Schatten in den Dunkelheiten der Nadelbäume. „Jetzt- wo sind sie denn, meine versprochenen Plätzchen und der schöne, warme Tee? Die willst du mir doch sicher nicht vorenthalten.“

 

Natürlich wollte die liebe Paulina das nicht, doch weil sie diese seltsame Erscheinung nicht ausstehen konnte, weil sie langsam davon überzeugt war, dass sie nur vorgab, das Christkind zu sein, wandte sie sich ab und machte sich auf und davon.

 

„Na, was ist das denn für ein Gehabe? Da haben dir deine Eltern aber keine Manieren beigebracht!“ Richtig verärgert klang der Sprecher nicht, mehr hämisch belustigt. Paulina hörte, wie er sie verfolgte. Er ging eher gemächlich, weil sie in den Sichtverhältnissen nicht schnell unterwegs sein konnte- erst recht nicht bei dem rutschigen Untergrund.

 

„Na komm, sei nicht so- gib´ mir schon das versprochene Festmahl.“ Pauline dachte nicht daran. „Es ist nicht für dich, du bist nicht das Christkind, ich weiß zwar nicht, wer du bist, aber ganz sicher bist du nicht das nette Christkind.  Also lass´ mich in Ruhe!“, sagte sie jetzt doch laut, weil es in ihr hochkochte. Wie der beinahe jeden Satz mit „Na“ anfing, das war doch irgendwie richtig blöd, fand sie.

 

Ihr Herz klopfte bis zum Hals, weil sie dem gemeinen Kerl entkommen wollte und gleichzeitig nicht recht wusste, wohin sie zu gehen hatte. Ständig rutschte sie weg, konnte sich aber zum Glück immer rechtzeitig fangen, ehe sie hinfiel.

 

Wie um sie aufzuziehen, ließ der, der sie in die Irre geführt hatte, immer wieder sein Glöckchen bimmeln. Gelegentlich sagte er noch
Sachen wie „Na komm, hab´ dich nicht so“, oder „Du bist aber kein sehr artiges Kind, das mag das Christkind aber nicht leiden“ und noch anderes.

 

Pauline waren inzwischen alle schönen Gefühle abhandengekommen. Was hatte sie sich auf dieses Weihnachten gefreut, jeden Tag, an dem sie am Plan gearbeitet hatte, hatte die Vorfreude größer werden lassen- jetzt war davon nichts mehr vorhanden. Der blöde Mensch hatte es ihr gründlich ausgetrieben! Alles war bei ihr so durcheinander, dass sie von dem angeblichen Christkind schon nicht mehr als Wesen dachte, sondern als einem einfachen Menschen.

 

Die Kälte, die inzwischen alles durchdrungen hatte, tat ihr übriges. Pauline war jetzt offiziell am Ende und so weit getrieben, dass sie wünschte, die Weihnachtszeit wäre jetzt schon vorüber. Wenn es das war, was das Christkind wollte, hatte es das erreicht.

 

Die Tränen flossen jetzt frei die Wangen hinab, die Nase begann zu laufen und hörte nicht mehr auf. Paulina rieb die Ströme wütend weg, aber weil sie nicht aufhörten, gab sie es irgendwann auf. Sie brauchte ihre Arme auch anderweitig, weil sie ständig ins Rutschen kam und nur die Bäume und das Buschwerk ihren Sturz jeweils bremsen konnten. Von ihrem Verfolger war bald nichts mehr zu hören; Paulina hoffte sehr, dass sie ihn abgehängt hatte.

 

Bald wäre sie zurück im Dorf und dann im Elternhaus. Sie würde die Türe hinter sich verschließen und erst wieder an Ostern nach draußen gehen. Vorher bekam sie keiner aus ihrem Zimmer.

 

Gleich darauf kam sie wieder ins Rutschen- sie fuhr die Arme aus, aber ihre Hände bekamen nichts zu greifen. Paulina erschrak und ehe sie sich versah, saß sie mit dem Po auf dem Boden. Das tat weh, aber sie hatte keine Zeit, über die Schmerzen nachzudenken, weil sie ins gleiten kam. Es war hier so dunkel, dass sie nicht sah, wo sie hingeraten war. Jetzt fuhr sie die Arme noch einmal aus und stemmte die Fersen in den Boden, aber die Bewegung hielt das nicht auf. Im Gegenteil- sie nahm an Fahrt auf, weshalb sie sich auf die Seite warf, um die Rutschpartie abzubrechen.

 

Aber auch das brachte nichts, weil sie anscheinend schon zu schnell war. Ihre Angst stieg ins Unermessliche, sie schrie um Hilfe und flehte, dass das unfreiwillige Rennen bald ein Ende hätte. Selbst in dieser sehr turbulenten Situation blieb genug an klaren Gedanken übrig, dass sie voller Schrecken dachte, dass sie genau wüsste, wo es sie hin verschlagen hatte- auf einen steilen Abhang, der jäh an einem Abgrund endete. Der fiel senkrecht hinab und das so tief, dass sie da nur durch ein riesiges Wunder unverletzt heraus käme.

 

Paulina schrie und weinte und flehte um die Wette, aber der Abhang hatte kein Einsehen, sie rutschte und glitt und schlitterte, schnell und immer schneller, so dass sie auf jeden Fall über den Rand des Abhangs hinaus schießen würde.

 

In Paulina krampfte sich alles zusammen, sie war jetzt wirklich am Ende und konnte überhaupt nicht mehr.

 

Aber dann geschah etwas, mit dem sie schon nicht mehr gerechnet hatte. Das Wunder, auf das sie gehofft hatte und das sie so dringend benötigte, das Wunder wurde wahr. Plötzlich war da eine besondere Helligkeit, als hätte jemand im Himmel die Sterne extra hell aufleuchten lassen, wahlweise als hätte jemand im Himmel viele, viele Kerzen aufgestellt.

 

Dann ging ein Ruck durch sie hindurch, als hätte sie sich irgendwo verfangen, wie etwa ein schwimmender Ast auf einem Fluss an einem Hindernis, auf jeden Fall war die Schussfahrt urplötzlich vorbei, aber für das Erkennen brauchte sie ein paar Sekunden, weil es eben so völlig unvermittelt geschehen war.

 

In ihrem Kopf ging alles durcheinander und das hatte erst ein Ende, als ihr etwas Feuchtes über das Gesicht fuhr und sie, halb angewidert und halb neugierig, nach oben sah, wo sie in das freundliche Gesicht eines Rentieres sah, was sie erst noch verwunderte, weil es doch eigentlich dunkel war, aber dann sah sie vom Rentier zum Schlitten, ein herrlicher Schlitten war das, über und über festlich geschmückt, und endlich sah sie auch den Insassen des Fuhrwerks, dessen goldenes Haar im Schein der unzähligen Kerzen wunderbar schimmerte.

 

„Hallo Paulina, schön, dass ich dich hier treffen darf“, sagte das freundliche Wesen, stieg aus, half ihr hoch und in den Schlitten. Paulina brachte kein Wort hervor, sie war völlig perplex und wusste überhaupt nichts mehr von all´ dem, was sie dem Christkind hatte sagen wollen. Denn das hatte ihr gerade höchstselbst in den wunderschönen Wagen geholfen, das wusste sie sofort, das brauchte ihr niemand erklären.

 

Jetzt, wo sie ihm endlich gegenüber saß, fehlten ihr die Worte. Sie hatte so viele Fragen, so viele Dinge, die sie sagen wollte und sie wusste nur zu genau, dass sie das wunderbare Christkind nur wenig Zeit für sie haben konnte, weshalb sie jetzt schnell mit der Sprache hervorkommen sollte, aber ihr Mund war wie verschlossen, und das ärgerte sie und wieder traten Tränen in ihre Augen.

 

„Du verzeihst, wenn wir weiter fahren? Wir müssen noch viele Geschenke austeilen. Wärme dich nur unter der Decke, Paulina. Ich wärme mich gerne an deinem Tee und deinen selbstgebackenen Plätzchen. Vielen Dank dafür, das hast du ganz toll gemacht.“

 

Der Tränenfluss hörte auf. Paulina verstand sehr genau, dass alles gut war. Sie war am Ziel trotz eines gehörigen Umwegs und obwohl sie das Christkind nicht am ausgesuchten Ort gefunden hatte. Es trank ihren Tee und aß ihre Plätzchen und es lächelte sie an. Da spielte es keine Rolle, dass sie sich nicht daran erinnerte, es ihm gereicht zu haben.

 

„Möchtest du mich auch etwas länger begleiten? Ich freue mich sehr über deine Gesellschaft und ich will wiedergutmachen, was der Lauser Bimmelwicht angerichtet hat.“

 

„B-bimmelwicht? W-wer ist das?“ Jetzt hatte sie ihre Sprache doch noch gefunden, weil sie der Name sehr verwunderte. Sie hatte nie in ihrem Leben etwas von einem Wesen namens Bimmelwicht gehört.

 

Das Lächeln des Christkindes schwand etwas. „O, das ist ein echter
Spitzbub, der netten Menschen, vor allem Kindern, gerne einmal Streiche spielt, sie auf falsche Fährten lockt, ihnen die Lust austreibt, zum Beispiel am Weihnachtsfest, weil er es immer übertreiben muss. Heute Nacht umso mehr, er hat dich auf den steilen Abhang getrieben und wären wir nicht gekommen, hättest du dir sehr weh getan. Er meint es nicht richtig böse, aber er kann es eben auch nicht lassen, das Necken und böse Spielchen treiben. Ich habe bereits jemanden gesandt, der ihm ins Gewissen redet. Das wird nicht viel bringen, aber er weiß auch, dass er unter Beobachtung steht. Was ihm dabei noch nicht klar ist, dass ich mich nach meinem Dienst höchstpersönlich um ihn kümmern werde. Danach wird so etwas nicht noch einmal vorkommen. Das hoffe ich jedenfalls!“

 

Paulina glaubte sofort, dass jeder Spitzbub und Bösewicht nach ein paar Worten des Christkindes anders drauf sein würde. Jetzt, nach der Erklärung des himmlischen Wesens, hatte sie den Kopf frei, um sich die Umgebung anzuschauen. Wie staunte sie da, angesichts dessen, dass sie über eine große Stadt flogen. Sie hatte nichts von der Anreise mitbekommen und jetzt wurde ihr die Zeit so richtig bewusst.

 

„Meine Eltern, sie warten sicher schon, die Kirche ist doch bestimmt schon aus, und wenn ich nicht da bin, werden sie sich Sorgen machen.“

 

„Keine Sorge, Paulina- du wirst rechtzeitig zur Bescherung daheim sein. Das kann ich dir versprechen.“

 

Das kleine Mädchen lehnte sich zurück. Ihre Sorgen waren verpufft, weil sie genau wusste, dass sie dem Christkind vertrauen konnte. Es war ja wirklich nicht wie dieser abscheuliche Bimmelwicht, der sie am Heiligen Abend so derbe auf den Arm genommen hatte. Wo sie an ihn dachte und dem schönen Christkind gegenüber saß, kam ihr die Frage in den Sinn, die sie loswerden musste, wenn sie die Zeit im Schlitten genießen wollte.

 

„Was geschieht mit ihm, diesem Bimmelwicht? Ich meine, wirst du nur mit ihm sprechen, ihm ins Gewissen reden, oder, ich weiß nicht, ihm Hausarrest geben oder so was?“

 

Während das Christkind weiter Geschenke austeilte und gleichzeitig ihr gegenüber saß, herrschte die weihnachtliche Stille, die so einzigartig ist, selbst wenn überall die Glocken schlagen, die das ja nur unterstützen. Die Stille dauerte so lange, dass Paulina schon dachte, dass das Christkind die Antwort für sich behalten wollte. Aber dann sprach es doch, gerade als sie über einen schwarzen Wald flogen.

 

„Er meinte es nicht richtig böse, das habe ich bereits gesagt. Aber er darf kleine Kinder nicht einfach vom rechten Pfad abbringen. Das hat bei dir nur deshalb so gut geklappt, weil er mit seiner Schelle so getan hat, als wäre er ich. Damit er seine Lektion lernt, wird er ein Jahr darauf verzichten müssen. Danach wird er hoffentlich verstanden haben.“

 

Paulina nickte, sie fand die Strafe sehr angemessen. Das sah der Bimmelwicht freilich völlig anders, aber ihm blieb keine andere Wahl, als seine geliebten Glocken abzugeben. Es darf vorausgeschickt werden, dass er seine Lehren aus der Bestrafung ziehen wird- Paulina war sein letztes Opfer, danach wird er seine Schellen nur noch zur Freude in vielen Ortschaften einsetzen, die nicht recht in Weihnachtsstimmung kommen wollen. Aber das ist eine andere Geschichte.

 

In der Heiligen Nacht, in der Paulina zunächst den Bimmelwicht und dann endlich das Christkind getroffen hat, durfte sie Letzteres ganz lange begleiten. Aber irgendwann war der Punkt gekommen, an dem sie sich voneinander zu verabschieden hatten.

 

Das Christkind brachte seinen kleinen Gast zu einem Punkt, der weit entfernt der Kirche lag, so dass sie von niemandem gesehen werden konnten- das war notwendig, weil die Menschen gerade aus der großen Pforte strömten- der Landeplatz lag dabei aber so nah, dass sie nicht weit zu gehen hatte.

 

Es war dann, wie das himmlische Wesen gesagt hatte- sie waren nicht etwa am Ende des Spätgottesdienstes gekommen; die Menschen redeten ausführlich über das tolle Krippenspiel, Paulina sah auch einige der Kinder, die mitgespielt hatten. Sie fragte sich bis zum Ende ihres langen Lebens, wie das denn bitte schön möglich sein konnte, so brauchte sie jedenfalls keine Ausreden anbringen, denn die Wahrheit hätten die Erwachsenen nicht geschluckt- ihr Glaube an das Christkind war jedenfalls bestenfalls angestaubt.

 

Sie sprach dann auch mit niemandem über ihr Erlebnis. Das gehörte ganz alleine ihr. Die Erwachsenen hätten es eben ihrer großen Fantasie zugeschrieben und sie nett belächelt. Also hatten sie es nicht verdient, von der überaus tollen Geschichte zu hören.

 

Ralf war der Einzige, der mehr oder weniger davon erfuhr. Denn am Ende eines sehr ausgedehnten Streichs, der seine Qualitäten als Spitzbub hervorgehoben hatte, sagte sie, dass er und der Bimmelwicht die besten Freunde sein könnten.

 

Das hatte den Bruder gewaltig verwirrt, was Paulina sehr zufrieden zur Kenntnis genommen hatte und sie sagte so bei sich, als sie alleine in ihrem Zimmer weilte: „Na gut, Bimmelwicht- am Ende bist du ja doch für etwas gut gewesen.“ Danach war sie eingeschlafen und von den wunderbarsten Träumen von nächtlichen Schlittenfahrten verwöhnt worden.

 

© 2021 Peter Albra Brenner